STILLE

 

Das Dorf liegt am Ende der Landstraße.

Dort löst sich diese in einzelne Feldwege auf.

Sie schlängeln sich zwischen den Feldern und tauchen in Waldungen ein.

 

 

Es ist ein einfaches Haus.

Große Steinplatten liegen in ihren ursprünglichen Formen aneinandergelegt im Innenhof.

Zwischen den Platten wächst Gras. Das zweiflügelige Tor bleibt immer geschlossen.

Die anschließende Tür klemmt nach Zweidrittel des Öffnens am Boden.

In der Mitte des Innenhofes steht eine Linde. Sie spendet einem Tisch Schatten.

Sitzt man dort, hört man das laute Brummen der Bienen in der Baumkrone.

 

 

Zum Einkauf muss ich in einen der benachbarten Orte fahren.

 

 

Alle drei Wochen ist die Mülltonne an den Straßenrand zu stellen.

 

 

Ein halbhoher Ladenschrank neben dem Bett.

Die dunkle Maserung der Holzplatte wie Flussläufe.

Dort nun der kleine Stapel mitgebrachter Bücher.

Im Fensterrahmen, von einer Seite zur anderen, ein einzelner Spinnenwebfaden,

der sich leicht im Luftzug wiegt.

 

 

Fast waagrecht fällt das Morgenlicht der Sonne und

zeichnet die Schatten des Fensterkreuzes

auf das Netz des Mückenschutzes.

 

 

Jeder Tag ist vom Öffnen und Schließen des Hühnerstalls eingerahmt.

Wenn die Hühner am Morgen aus dem Stall kommen, ist ihre Reihung jeden Tag gleich.

Es herrscht eine hierarchische Rangordnung.

 

 

Im Haus gegenüber schrubbt der Bauer die Terrasse mit dem großen Sitzplatz.

Der Tisch, die Bänke und Sesseln wurden dafür in die Wiese gestellt.

Von irgendwoher der warme Geruch von frisch gesägtem Holz.

 

 

Stille. Stille.

Manchmal das Knistern der Baumblätter im Wind.

Die offenen Hände,

nach oben gewendet.

Das milde Licht.

Der Himmel wolkenlos.

 

 

Die flirrende Sonne

hinter meinen Augenlidern,

wie blaue Blitze gefrorener Schweißnähte

vor blutroter Haut.

Die Hühner baden ihr Gefieder im Sand.

 

 

Der Regen fällt schwer.

Richtung Westen ist der Himmel dunkel, im Osten erscheinen Wolkenschleier,

vom Sonnenlicht durchleuchtet, bereits in ihrer Leichtigkeit.

Die fallenden Tropfen knistern in den Blättern der Bäume.

Ein doppelter Regenbogen hat sich vor dem ausgewaschenen Himmel gebildet.

Ich gehe den Hang hinauf.

Bis zum Horizont schmiegen sich die Hügel aneinander.

Feuchtigkeit steigt in einem zähen Grau hoch.

Sonnenstrahlen brechen sich darin zu Lichtstreifen.

Entfernte Kinderstimmen.

 

 

Im Wald umfängt mich eine sanfte Kühle.

Ich lege meine Hand auf einen Baumstamm. Die Rinde fühlt sich warm an.

Auch so kann man sich der eigenen Existenz versichern.

 

 

Selten liegen die Hühner in den schattigen Sandmulden.

Die meiste Zeit streunen sie Futter suchend herum.

Gewisse Orte werden dabei in unterschiedlichen Zeitabfolgen aufgesucht.

Aber nach welchem System bleibt im Verborgenen.

Dabei erweitern sie fast unmerklich ihr Territorium.

Ihr wackelig schwankender, fast beschaulicher Gang erinnert an Tourist*innen

auf einer Sigthseeing-Tour.

Wenn ein Huhn ein Ei gelegt hat, gackert es laut.

 

 

Auf der gereinigten Terrasse sitzt eine kleine Gruppe Menschen um den Tisch.

Es wird Kaffee und Kuchen gereicht.

 

 

Eine quadratische Hülle, sechs mal sechs Zentimeter.

Auf der Oberfläche ist ein zentralistisches Muster eingeprägt,

ähnlich dem Blick in ein Kaleidoskop.

Aus dieser Hülle lässt sich eine Lupe herausdrehen.

Vor mir hatte sie bereits mein Vater verwendet.

Mit diesem optischen Gerät schwebt man im Detail über dem immer anwesenden Ganzen.

 

 

Im Liegestuhl die Füße ausgestreckt ruhend auf den Sessel gelegt,

vertrauensvoll bewegen sich die Hühner nach Fressen suchend unter meinen Beinen durch.

 

 

Den Blick wieder langsam schweifen lassen.

Seit langem kein Kondensstreifen am Himmel.

 

 

In einem Traum

höre ich, halb schlafend in der geträumten Nacht,

aus der Ferne das Geräusch eines Zuges,

das durch das offene Fenster dringt,

und es legt sich wie eine schützende Hülle

über den Körper des Kindes,

das ich einmal war.

 

 

In diesem Jahr,

das Näherrücken des Todes

und das Abtauchen des Freundes

in das ewig anwesende Nichts.

Mit der Frage:

Wer waren wir?

 

 

Gut, dass es mir manchmal das Reden verschlägt.

Dieser Zustand kann andauern,

als wäre er gesucht,

um jeden unnötigen Satz zu vermeiden,

bis endlich nichts bleibt

außer Schweigen.

 

 

Unsere eigenen Zielvorgaben,

Absichten, Wünsche.

Werden sie noch berücksichtigt?

 

 

Die Lichtfläche aus dem Fenster gegenüber

wirft das Fensterkreuz auf die Zimmerwand,

in der sich ein Schatten bewegt,

der keinem Körper gehört.

Das Unerklärliche nicht unnötig mit Bedeutungen belasten.

 

 

Es ist alles wie immer.

Der Tag erwartet seine Ergebnisse.

Der Garten wird bewässert,

Das Liegengebliebene aufgearbeitet.

Noch ist das Vertraute anwesend,

wie ein Kommen und Gehen auf leisen Sohlen.

 

 

Auch am Punkt der Katastrophe

zeigen sich die Dinge scheinbar unverändert,

wie eingefroren in Raum und Zeit sind sie da,

gleichen die Häuser, die Bäume, der Himmel

ehernen Skulpturen.

 

 

Von Tag zu Tag werden die Abende kühler.

Am späten Nachmittag heize ich den alten Herd ein.

Es braucht seine Zeit, bis sich die Wärme in dem großen Zimmer ausgebreitet hat.

Manchmal wohltuende Eintönigkeit.

Von der Küche her das beruhigende Geräusch des Geschirrspülers.

 

 

Die Gefahr, dass mit einem Lufthauch alles zusammenbrechen könnte.

Der Blick auf das Aufgebaute,

und immer häufiger kehrst du zurück in die jungen Jahre,

der Zeit auf der Suche nach dem wahren Leben,

als wüsste man, wie es zu sein hat,

dabei immer wieder Abwege und Ausflüchte,

und der Boden, auf dem du nun gehst,

wird immer brüchiger,

die Linie, die du vor dir beschreiten wirst,

wird fragiler und wertvoller.

Die Wirklichkeit ist immer radikal.

 

 

Die Dinge häufen sich,

die du noch tun willst.

Alles Störende beiseite schieben,

den einladenden Raum der Freiheit

wachsen lassen.

 

 

Seit geraumer Zeit das Heulen eines Rasenmähers.

Als ich ans Fenster trete, erstirbt das Heulen.

Der Bauer bringt den Freischneider in die Scheune.

Die alte Bäuerin streut das geschnittene Gras über ihre Gemüsebeete.

Hinter dem Waldkamm kündigt sich die Abenddämmerung an.

 

 

In der hereinbrechenden Dunkelheit das entfernte Rufen einer Frauenstimme.

Nach einer Weile die Antwort des noch weiter entfernten Kindes.

Vor meinem offenen Fenster der Nachthimmel.

Bei längerer Betrachtung weitet er sich.

Ich selbst im Zimmer, das Schutz und Geborgenheit bietet,

die noch immer unzählige Menschen auf dieser Welt nicht kennen.

 

 

Ein Mann schlägt hüfthohe Pfosten in die Erde.

Vom zuletzt eingeschlagenen bis zum nächsten zählt er jedes Mal fünf Schritte.

Und teilt so die Landschaft.

 

 

Helmut Wimmer, 2020

Stille