DER ANRUF

 

Musik und laute Stimmen drangen durch das offene Fenster ins Zimmer. Für einen Spätsommertag war es außergewöhnlich warm draußen, aber Lena wollte nicht, dass das Kind wieder aufwachte. Melanie ins Bett und zum Schlafen zu bringen, war eine nervenzerrende Aufgabe. Bewusst ausgedehntes Zähneputzen, gemächliches Ausziehen und noch mehr gemächlicheres Pyjamaanziehen und ständiges Gegenfragen beim Vorlesen forderten ein bewusstes Ruhig bleiben. Einmal sind Lena doch die Nerven gerissen und sie hatte Melanie lautstark gemaßregelt. Prompt am Tag darauf ein Anruf der Mutter, dass es keinen Grund gebe, ihre wohlerzogene und äußerst kooperative Tochter anzubrüllen. Bevor Lena die Bezeichnung ‚Anbrüllen’ als völlig überzogen zurückweisen konnte, hatte die Frau bereits einen Babysitterinnenwechsel in den Raum gestellt, falls so was nochmals vorkommen sollte. Sofort fiel Lena in eine Art von ergebener Beschwichtigung, für die sie sich augenblicklich hasste, anstatt der Frau zu sagen, dass ihre Tochter eine gerissene, manipulative Göre sei. Mit einem impulsiven ‚Wiederhören’ unterbrach die Frau das Telefonat. Die Kleine sollte jetzt ruhig ins Schwitzen kommen. Lena ging zum Fenster und sah in den abenddämmrigen Innenhof. Aus einem hell erleuchteten, offenen Fenster eines der Nachbarhäuser drang Musik und ausgelassenes Stimmengewirr. Drinnen eine Ansammlung junger Menschen. Lena wäre lieber dort drüben gewesen, als eine halbe Nacht mit einer verzogenen Göre zu verbringen, die regelmäßig um 22.00 Uhr nach einem Glas Wasser schrie. In dem Fenster erschien die Silhouette eines jungen Mannes und Lena hatte trotz der beträchtlichen Entfernung das Gefühl, dass er zu ihr herübersah. Einige Zeit stand er unbeweglich dar, dann nahm er einen Schluck aus seinem Glas und ging wieder in den Raum zu den anderen. Lena schloss das Fenster und verließ leise das Kinderzimmer.

Lena goss sich Wein in ein Glas – neben der TV-Benützung eines der wenigen Dinge, die ihr hier zugestanden wurden – und setzte sich auf die Couch. Nachdem Melanie endlich im Bett war, musste sich Lena innerlich immer ordnen und überlegen, wie sie die restlichen Stunden verbringen wollte. Obwohl sie immer etwas zum Lesen und meist auch Studienunterlagen mitgenommen hatte, verlor sie sich meist beim Fernsehen. Also zappte sie wieder durch die Programme, die außer Dokusoaps, Shows und Sport nichts zu bieten hatten. Ein absoluter Mistfernsehtag, dachte Lena. Zurückgelehnt starrte sie zur Decke. Lust auf eine notwendige Überarbeitung der mitgebrachten Uniskripten hatte sie gar nicht. Sie zog sich eine Zeitung heran und überflog die Schlagzeilen.
Wenn Lena langweilig wurde, und das traf auf fast jeden Kinderbetreuungsabend zu, begann sie in der riesigen Altbauwohnung herum zu gehen. Dass sie hier immer eine gewisse Ruhelosigkeit plagte, lag wohl an der teuer durchdesignten Einrichtung, in der sie kein gemütliches Eck finden konnte.

Telefonläuten drang durch die Wohnung. Zuerst war Lena irritiert, weil es nicht ihr Handy war. Irgendwo muss es hier einen Festnetzapparat geben. Hoffentlich wacht davon die Kleine nicht auf. Wer ruft bitte noch an einem Festnetz an? Falls Marianne wieder mal die ausgemachte Zeit verlängern wollte oder sich kontrollierend nach dem Befinden der schlafenden Tochter erkundigen wollte, rief sie immer am Handy an.
Das Klingeln kam ihr schrill vor, auffordernd, fast mahnend. Wo war bloß dieses Scheißtelefon?
Schließlich fand Lena den Apparat und hob ab. Kaum hatte sie ‚Ja, bei…’ begonnen zu sagen, unterbrach sie eine Männerstimme:
– Haben Sie großartig hingekriegt! Richtige Egobefriedigung muss das für Sie gewesen sein. Aber damit ist die Sache für mich noch nicht gegessen. An dir werde ich dran bleiben! Dich mach ich fertig!
Und schon war die Verbindung beendet.

Lena saß still da, und merkte, wie sehr sie mit einem Mal innerlich zu zittern begann und sich dieses Zittern durch den ganzen Körper ausbreitete. Ganz tief saß dieses vereinnahmende Gefühl von Bedrohung und Angst. Sie lehnte sich zurück, atmete ein paar Mal tief durch. Langsam ebbte das Zittern ab. Was war das eben? dachte sie. Sie versuchte sich das Telefonat in Erinnerung zu rufen, die Worte, die Sätze. Vor allem der letzte Satz klang in ihr immer noch nach: Dich mach ich fertig!
Lena versuchte sich die Stimme des Mannes zu vergegenwärtigen, um irgendetwas daraus ableiten zu können. Aber da war nichts Besonderes. Sie hätte nicht mal sagen können, ob es sich um einen jüngeren oder älteren Mann gehandelt hatte. Nur dass er von der formellen Anrede Sie auf ein Du gewechselt war, als hätte er die gewählte Form in seiner Wut nicht durchhalten können.
Und dann wieder: An dir bleib ich dran! Dich mach ich fertig!
Dabei die Fantasie, dass der Mann unten vor dem Haus stand.
Sie hatte Angst zum Fenster zu gehen. Sie sah sich um, lauschte, plötzlich der Impuls, das Licht abzudrehen.
Mit einem Mal das Gefühl der Erleichterung. Wie konnte sie nur? Fast musste sie lachen. Das galt ja gar nicht ihr, sagte sie sich. Er hat hier am Festnetz angerufen, in dieser Wohnung, die dazugehörige Nummer gewählt. Er meinte Marianne. Klar, wen sonst. Er dachte, Marianne wäre dran. Richtig wütend war der gewesen, hatte sich wohl ungerecht behandelt gefühlt. Machte Marianne nicht irgendwas bei Gericht? War sie nicht Richterin oder Anwältin oder irgend so was? Lena konnte sich gut vorstellen, wie diese Frau im wahrsten Sinn des Wortes urteilte. Beurteilte. Für sich ein Urteil fällte. Ihr Urteil. Und es aussprach. Egal ob gerecht oder ungerecht.
Aber das, was der Mann da vorhin geboten hatte, war heftig. Das war gewalttätig, dachte Lena. Richtige Gewalt war das.

Dann fiel ihr der Mann am Fenster der Wohnung mit der Party ein. Er konnte wissen, welche Wohnung das hier war. Vielleicht kannte er die Bewohner, brauchte nur im Internet die Nummer zu googeln. Hatte dieser Mann angerufen? Galt das Telefonat doch ihr? Hat er sich einen geschmacklosen Scherz erlaubt? Blödsinn! Jetzt geht die Fantasie mit dir durch, sagte sich Lena.
Trotzdem ging sie vorsichtig ans Fenster, blieb leicht verdeckt hinter dem Vorhang und sah hinüber zu der hell erleuchteten Wohnung, in der die Party lief. Aber niemand trat aus der anonymen Gruppe heraus, um zu ihr herüber zu sehen, um vielleicht zu prüfen, ob und wie sie auf das Telefonat reagierte.

Ein Schrei ließ sie zusammenschrecken. Für einen Moment wusste sie nicht, was dieser Schrei zu bedeuten hatte.
– Leeenaaa! hörte sie Melanie schreien. Ich hab’ Durst!
– Halt die Klappe, sagte Lena mehr zu sich selbst, um damit den schlimmsten Ärger hinunterzuschlucken.
– Leeenaaa! schrie wieder das Kind.
Lena öffnete die Kinderzimmertür und im Halbdunkel sah sie das Kind aufrecht im Bett sitzen.
– Musst du so brüllen? fragte Lena.
– Weil du mich ignorierst, sagte die Kleine.
Wieder so ein altkluges Erwachsenenwort. Lena fragte sich, was die Eltern mit ihrer Tochter so redeten.
– Wasser! forderte das Mädchen.
– Bitte heißt das oder du holst dir’s selbst.
– Das sag ich Mama!
– Nur zu.
Das Kind sah sie finster an, bevor sie zwischen den Zähnen ein kurzes ‚Bitte’ hervorpresste.
In der Küche füllte Lena das Glas und mahnte sich zur inneren Ruhe.
– Verschütte nichts, sagte Lena.
Das Mädchen begann unendlich langsam zu trinken und sah dabei Lena provozierend an.
Lena versuchte sie so gut es ging nun wirklich zu ignorieren.
Melanie hielt Lena schließlich das leere Glas fordernd hin.
– Noch! forderte sie.
– Dann musst du in zwei Stunden wieder auf’s Klo.
Stur hielt ihr das Mädchen weiterhin das Glas entgegen.
Lena wollte sich auf keine Auseinandersetzung einlassen.
Beim zweiten Glas sah sie das Kind an. Deine Mutter hatte gerade einen Drohanruf bekommen, und du trinkst in aller Ruhe dein zweites Glas Wasser um mich zu nerven. Du bist gerade mal altkluge sechs Jahre und gleichst deiner Mutter mehr, als dir vielleicht einmal lieb sein wird. Melanie sah sie plötzlich an, als versuche sie ihre Gedanken erahnen. Dieser leicht erstaunte und wütende Blick des Kindes über sein unergründliches Gegenüber besänftigte Lena.
– Wer hat angerufen? fragte Melanie scharf.
Die Hinterlist dieses Kindes war bodenlos.
– Niemand.
– Es hat aber geklingelt.
– Das hast du geträumt.
Als Lena das Glas nehmen wollte, spürte sie, wie Melanie das Glas fest hielt.
– Ich habe das nicht geträumt.
– Es ist Zehn. Schluss jetzt.
Und Lena entzog ihr mit einer fast zu heftigen Bewegung das Glas.

Wie würde Marianne reagieren, wenn sie ihr von dem Anruf erzählte? Wüsste sie sofort, von wem hier die Rede war? Zum ersten Mal machte sich Lena Gedanken über jene Frau, auf deren verwöhntes Kind sie einige Abende im Monat aufpasste.
Wenn sie gerade vorm Weggehen war, sich herrichtete, schminkte und Lena erklärte, was heute Abend anstünde, ob dem Kind noch besondere Wünsche zu erfüllen seien, sprach sie immer in den Spiegel hinein. Richtig herablassend fand das Lena. Und im Hintergrund, meist im gehörigen Abstand, ihr Mann. Wie ein Schatten. Daher gab ihm Lena bereits am ersten Abend den Namen Schattenmann. Wie er wirklich hieß, hatte sie längst vergessen. Obwohl er immer freundlich war, bei dem wenigen, was er zu Lena sagte. So einen Anruf würde sie diesem Mann auch nicht zuordnen. Der hatte unwiderruflich ihr gegolten.

Lena holte sich noch Wein aus der Küche. Mit dem Glas in der Hand bewegte sie sich wieder durch die riesige Wohnung, die ihr nun anders erschien. Mit diesem Anruf war eine Verletzbarkeit in diese Räume eingedrungen. Zum ersten Mal öffnete Lena die Schlafzimmertür. Das Bett war säuberlich gemacht und mit einer Tagesdecke geschützt. Zierkissen waren an den Kopfenden fein säuberlich drapiert. Lena versuchte sich etwas vorzustellen, was dieses Zimmer betraf, dieses Bett, was ihr aber nicht gelang. Es lag wohl auch daran, dass sie nicht wusste, was sie sich vorstellen könnte.

In der Partywohnung war die Musik nun etwas gedämpfter.
Lena zappte wieder durch die Programme, deren Qualität mit fortgeschrittener Stunde nicht gestiegen war.

Wie aus einem Traum schien der Ton immer mehr in die Realität zu tropfen. Als dieser Ton sich in Lenas Kopf als reales Geräusch eines Telefonläutens einschrieb, fuhr sie aus dem Halbschlaf hoch.
Starr saß sie da, hörte das auffordernde Ringen. War das wieder dieser Irre? Nie im Leben würde sie ran gehen und sich nochmals dem aussetzen. Warum hörte es nicht auf? Dann ein Knacksen, als würde ein Anrufbeantworter anspringen. Lena lauschte. Nichts geschah. Vielleicht hatte der Anrufer sofort wieder aufgelegt. Die Angst war übermächtig. Ohne es zu merken, war Lena in die Ecke des Sofas gerutscht. Sie sah auf die Uhr. Kurz nach zwölf. Die beiden mussten jeden Augenblick kommen. Aber dieser Augenblick begann sich zu dehnen. Unermesslich und unendlich langsam. Im Innenhof war es still geworden. Die Party schien vorbei oder man hatte wegen der vorgerückten Stunde die Fenster geschlossen. Trotz der inneren Anspannung schlief Lena irgendwann ein und wurde erst vom Öffnen der Wohnungstür wieder geweckt.

– Warum heben Sie nicht ab, wenn ich anrufe? kritisierte Marianne bereits von der Diele aus.
– Sie haben nicht angerufen.
– Doch, am Festnetz, weil ich mein Handy zu Hause vergessen hatte und Ihre Nummer leider nicht im Kopf habe.
Immer diese Herablassung, dachte Lena, bin ja nur die Aufpasserin der Göre.
– Ich wusste ja nicht wer anrief. Irgendwie schien mir das zu privat da ranzugehen?
– Zu privat? Da hebt man ab und sagt, dass man gerade auf mein Kind aufpasst und frägt, ob man was ausrichten kann? So was werden Sie doch noch zuwege bringen? Jetzt haben Sie halt unwissend eine Stunde länger ausharren müssen.
Während ihrer Worte hatte sich Marianne schon abgewandt und begab sich in den Ankleideraum.
– Sonst hoffentlich alles in Ordnung? rief sie Lena zu.
– Ja, alles bestens, sagte Lena und spürte den Blick des Schattenmannes auf sich.
Wie im Halbschlaf tapste Melanie an ihnen vorbei.
– Schatz, was machst du da, wo willst du hin? fragte Marianne.
– Klo, sagte Melanie reduziert infolge ihrer Schlafunterbrechung und sah niemanden an.
– Du sollst doch am Abend nicht so viel trinken.
– Lena hat mir gegeben.
– Wie oft habe ich Ihnen das schon erklärt?
Und da war Marianne schon auf den Weg in die Küche.
– Irgendwie habe ich noch Hunger.
Der Blick des Schattenmannes wurde Lena unerträglich. Spürte er, dass irgendwas vorgefallen war?
– Dann geh ich mal, sagte Lena und legte so viel Normalität in ihre Stimme, wie es ihr möglich war.
– Sie bekommen noch Geld, sagte der Schattenmann.
– Ach ja.
Lena lächelte.
Der Schattenmann zählte ihr die Geldscheine in die Hand.

Der Morgen war verregnet düster. Die Uni würde sie heute sausen lassen. Lena rollte noch ein wenig im Bett hin und her. Das Telefonat der letzten Nacht ging ihr dabei durch den Kopf. Diese gewaltvolle Androhung. Der Nachdruck in dieser aufgebrachten Stimme. Sie hätte Marianne davon erzählen müssen. Aber es war sicher bloß eine Drohung, beruhigte sich Lena. Was man halt so sagt, wenn man wütend ist. Und wenn er doch? Was würde denn so einer machen? Unbehagliche Bilder stiegen in Lena hoch. Nein, so schnell macht man so was nicht!
Dann stand sie auf und stellte sich einen Kaffee auf den Herd. Das Handy läutete. Am Display der Name von Marianne. Nicht abheben, sagte sich Lena. Sie werde überhaupt nie wieder bei Marianne abheben. Das Handy verstummte. Lena nahm es und löschte Mariannes Kontakt.

 

 

Der Anruf